Nachbilder, Echos, Wirkungen auf unsere Gegenwart

Ein Gespräch zwischen dem Regisseur Alexander Riemenschneider und dem Dramaturgen Daniel Richter
Hanoch Levin gehört zu den bedeutendsten israelischen Dramatiker*innen des 20. Jahrhunderts. Dennoch ist er im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. Seit längerem schon wolltest du „Das Kind träumt“ inszenieren. Was hat dich daran gereizt?
Ich muss ehrlich sagen: Ein Text wie „Das Kind träumt“ ist mir noch nicht begegnet. Das Thema Flucht auf diese Art und Weise aufzugreifen: Distanziert in der Form, die Figuren tragen keine Namen, sind nur in ihren Funktionen benannt – Der Vater, Die Mutter, Das Kind – und zugleich unglaublich berührend in der Sprache. Diese Mischung aus Distanz und Nähe gibt uns die Möglichkeit, einerseits einer gerade sehr kriegerischen Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen und zugleich in der Kunst die Hoffnung auf und den Willen zur Veränderung stark zu machen.
Foto: Dave Großmann
Das Stück bezieht sich historisch auf die Irrfahrt des Schiffs St. Louis, das 1939 mit über 937 jüdischen Menschen auf der Flucht vor dem Nazi-Regime nach Nordamerika aufbrach, aber in keinem Land Zuflucht fand und – als bittere Ironie des Schicksals – nach Europa zurückreisen musste. Inwieweit spielen die historischen Erfahrungen, die dem Text eingeschrieben sind, eine Rolle für deine Lesart?
Wir haben uns intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Stücks auseinandergesetzt – und damit auch mit der Geschichte, die vor der Entstehung des Stücks liegt. Du hast es angesprochen: Viele jüdische Menschen, die mit der St. Louis schon in Kuba vor dem Hafen lagen, wurden am Ende ihrer Odyssee in Europa von den Nazis ermordet. Die Erfahrung, dass die Geschichte eine immer noch bittere Pointe bereithält, ist in den Text eingeschrieben. Für Levin ist der historische Kontext die Wurzel seines Textes, zugleich ist es ihm wichtig, daraus eine universelle Geschichte zu machen, weil ihn die Frage interessiert, warum Situationen von Krieg und Vertreibung immer wiederkehren. Bezüge auf Zeiten und Länder fehlen. Den konkreten Hintergrund zu wissen ist uns wichtig, um damit eine modellhafte Geschichte erzählen zu können, in der auch Situationen von Vertreibung und Flucht unserer Gegenwart lesbar sein können.
Levin wurde 1943 geboren, als große Teile Europas unter nationalsozialistischer Herrschaft standen. Die Erfahrungen der Shoah haben sein künstlerisches Schaffen Zeit seines Lebens geprägt. Kann Theater die grausame Verbrechensgeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt darstellen?
Ich weiß nicht, ob und wie Theater die grausame Seite des 20. Jahrhunderts darstellen kann, oder überhaupt versuchen sollte – im Sinne einer dokumentarischen Abbildung, aber das meinst du wahrscheinlich auch nicht. Was Theater tun sollte, ist sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, um ihre Nachbilder, Echos, Wirkungen auf unsere Gegenwart treffen zu lassen. Unser aller Blicke sind – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – von Geschichte bestimmt. Im Theater einen Raum zu erschaffen, in dem wir uns dieser Bilder bewusster werden, sie auch durch andere Perspektiven wahrnehmen können, damit wäre schon viel getan. Dabei geht es für mich immer darum, aus einer Beschäftigung mit Geschichte heraus etwas über unsere Gegenwart zu erzählen.

Das kollektive Erzählen ist für deine Arbeit ein wesentlicher Punkt. Welche Bedeutung hat dies erzählerische Prinzip, wenn es um Erinnerungsarbeit geht?
Kollektives Erzählen bedeutet für mich immer auch Vielstimmigkeit. Das Theater ist ein fantastischer Ort, um diese vielen Stimmen erfahrbar zu machen. Ein Kollektiv kann zu einer starken gemeinsamen Stimme kommen, kann sich aber auch widersprechen, ins Wort fallen, verschiedene Varianten gleichzeitig erzählen. Bei unserer Produktion kommt noch etwas dazu: Wir sehen eine (Theater-)Gruppe, die sich auf die Spuren eines schon vorhandenen Textes begibt, das Buch liegt sichtbar auf der Bühne. Die Spieler*innen behaupten nicht, den Text im Moment des Sprechens „zu erfinden“. Das heißt, sie sind selbst in Positionen von Menschen, die etwas vorfinden und wiedergeben, weitergeben. Im Bewusstsein, dass hinter der Geschichte, die sie vortragen, noch unzählige weitere Geschichten stehen.

Das Kind nimmt nicht nur im Text, sondern auch in deiner Inszenierung eine zentrale Rolle ein. Welche Funktion übernimmt für dich das Kind?
Der Kommandant bezeichnet das Kind einmal als „Kristall” – als ein Prisma, durch das alle anderen Figuren anders auf das Leben schauen können. Durch den Blick auf das Kind wird ihnen bewusst, was sie auf dem Weg des Erwachenwerdens verloren haben. Sie bedauern dies und ändern trotzdem ihr Verhalten nicht. Beim Lesen hat das einen starken Widerstand in mir hervorgerufen, und ich hoffe, dass diese Doppelmoral der meisten erwachsenen Figuren in unserer Inszenierung deutlich wird. Um bei der Materialität des Kristalls zu bleiben: Das Kind ist für mich ein ganz starker, verdichteter Widerstand zu der Welt, der es ausgesetzt ist. Es weigert sich, sie zu akzeptieren, so wie sie ist.

Im Stück findet man vielfältige Theatermetaphern. Der Vorgang des In-Szene-Setzens scheint bedeutend für den Text zu sein. Welche Bedeutung hat das Theater im Text?
Bei uns wird der Aspekt des Theatermachens nicht nur deutlich im Text, sondern auch auf der Inszenierungsebene. Uns geht es um die Frage, wie wir unserer Wirklichkeit so begegnen können, dass sie uns aktiv werden lässt und zum Handeln bringt. In einer Welt, in der uns die schlimmsten realen Nachrichten medial so präsent sind, entwickeln wir vielleicht Mechanismen, ihren Realitätscharakter abzuschwächen, sie als Teil eines – nur noch medialen – Alltags zu akzeptieren. Gerade aber die theatrale, künstliche Darstellung bringt uns anders dazu, uns zu positionieren. Ich kann und will niemandem sagen, was er oder sie nach einem Besuch unserer Vorstellung tun soll, aber ich denke es ist notwendig, im Theater zu sagen: Schaut her, das gibt es. Und wir müssen uns damit auseinandersetzen.
Foto: Dave Großmann
Das Kind träumthast du als „clowneske Tragödie“ bezeichnet. Was muss man sich darunter vorstellen?
Die Tragödie ist von der Zwangsläufigkeit ihres Ausgangs gekennzeichnet. Von Beginn an ist klar, was am Ende passieren wird. Der Clown ist eine anarchische Figur, die eine bestehende Ordnung unterwandert und bestehende Systeme in Frage stellen will. Zwei widerstrebende Kräfte also. Beide versuchen wir in unserer Inszenierung ins Spiel miteinander zu bringen, weil wir diese Frage stellen wollen: Wie seht ihr das? Ist alles vorgegeben oder haben wir es in der Hand? Oder wo dazwischen befinden wir uns?
Levins Welt ist finster - gekennzeichnet von Tod, Vertreibung, Flucht und Gewalt. Die Figuren im Stück sehnen sich nach Erlösung, die ihnen aber stets verweigert wird. Selbst als im letzten Bild der „Messias“ erscheint, zeichnet sich kein Ausweg aus dem Fatalismus der Geschichte ab. Wie kann es Hoffnung in der Welt geben? Kann das Theater Erlösung verschaffen?
Natürlich sehne ich mich – wie wahrscheinlich viele Andere – nach Hoffnung, nach mehr guten Nachrichten, die mir Hoffnung geben können. Gleichzeitig glaube ich aber nicht, dass es unbedingt die Geschichten mit „Happy End“ sind, die uns Hoffnung geben. Es geht um Momente, die zeigen, dass es auch anders weiter gehen kann oder dass es anders sein sollte. Ich denke von diesen Momenten gibt es einige in „Das Kind träumt“, gerade in der Beziehung von Mutter und Kind. Was das Theater überhaupt betrifft: Auch da glaube ich eher an Momente von Hoffnung, die, wie das Theater selbst, immer etwas Vergängliches sind. Ein Theater, das Erlösung verspricht, wäre mir persönlich suspekt. Aber das Theater kann, auch wenn es von den Schrecken dieser Welt erzählt, ihnen eine Gestalt geben und sie bannen, indem es von ihnen erzählt. Und wenn das eine Gruppe sensibel und gemeinsam tut, liegt darin für mich schon viel Hoffnung.