Spielfeld Shakespeare

Interview mit Patrice Grießmeier und Henri Jakobs aus dem Magazin „Theater und Schule #4“
Was ihr wollt“ ist nach „Ein Sommernachtstraum“ die meistgespielte Komödie von William Shakespeare im deutschsprachigen Raum. Darin lässt er seine Figuren nach einem Schiffsbruch im unbekannten Illyrien stranden. – Über Rollen und Gesellschaftserwartungen, Identität und Genderfragen sprechen Ensemblemitglied Patrice Grießmeier und Musiker Henri Jakobs gemeinsam mit Stefanie Eue aus der Kommunikation.
STEFANIE Illyrien wird als ein Land des Rausches und ein Spielfeld der Liebe beschrieben. Aber was ist das für ein Ort? Immerhin muss man erst Schiffbruch erleiden, um dort zu landen …

PATRICE Illyrien erinnert mich persönlich an Transsylvanien aus der „Rocky Horror Picture Show“. Vieles von dem, was wir während der Proben diskutieren, ruft sofort Assoziationen zu diesem Film hervor. Menschen, die an einem Ort gestrandet sind und dort eine neue Identität annehmen, sich von gängigen Normen abgrenzen können. Wie ein Festival, in das man für ein paar Tage abtaucht. Es geht auch um Party, Hedonismus.

HENRI Ich als Musiker frage mich da gleich: Wie klingt das, braucht es eine eigene Volksmusik für dieses seltsame Land? Schnell habe ich aber gemerkt, Musik für Theater entsteht auf der Probe: Was braucht eine Szene und wie kann ich das musikalisch einfangen; wie sind Szene und Musik ineinander verwoben, so dass die Schauspieler*innen Impulse bekommen; wie kann die Musik auch die Zuschauer*innen mehr in das Bühnengeschehen hineinziehen.

STEFANIE Der Sturm spült auch die Musik nach Illyrien.
HENRI Genau, die Fantasie war, dass beim Schiffbruch sämtliche Instrumente über Bord gegangen sind und nach und nach am Strand landen. Das Equipment ist dementsprechend wild zusammengewürfelt, mit einem alten Keyboard und Synthesizern, mit Gitarre und Bassdrum, die schon bessere Zeiten gesehen haben. Klingen wird das nach einer Mischung aus „Trio“ und „Ideal“, dazwischen gibt es Techno-Momente. Musikalisch spielt auch der Narr eine wichtige Rolle. Wir haben ihm Chansons geschrieben, mit denen er uns durch die Inszenierung begleitet.
STEFANIE Im Zentrum von „Was ihr wollt“ steht Viola, eine junge Adelige, die sich nach dem Schiffbruch als Page verkleidet und in dieser Rolle den Namen Cesario annimmt, um in den Dienst des Herzogs Orsino zu treten. Damit beginnt bei Shakespeare ein Masken- und Verwirrspiel. Patrice, was ist Viola für eine Figur?

PATRICE So wie wir sie in den Proben angelegt haben, ist mir Viola als Figur sehr nah. Wir lesen sie allerdings anders, als du gerade beschrieben hast. Viola ist für uns eine junge Person, die bis zu dem Moment, in dem sie in Illyrien strandet, eine bestimmte Rolle spielen musste. Die junge Adlige, das ist für uns eine Maske. Erst durch die Verwandlung in Cesario erlebt Viola ihr wahres Ich.
STEFANIE Zugleich ist sie das Zentrum eines Liebesdreiecks: der Herzog Orsino ist in die Gräfin Olivia verliebt, die sich allerdings in den Liebesboten Cesario verliebt. Viola wiederum verliebt sich in Orsino. Das Chaos ist perfekt.

PATRICE Ja, und Shakespeare hat sogar noch eine Schleife eingebaut, als plötzlich Sebastian auf der Bildflache erscheint, der totgeglaubte Zwillingsbruder von Viola, und von Gräfin Olivia für Cesario also Viola gehalten wird. Dieses Spiel mit Identitäten war zentral für die Besetzung: Ich spiele alle drei Rollen: Viola, Cesario und Sebastian. Das erlaubt uns, die Geschichte fluider zu erzählen. Und um auf Viola als Figur zurückzukommen: durch die Nähe zu Olivia und Orsino erlebt sie eben nicht nur ihre Genderidentität neu, sondern auch ihre Sexualität.

STEFANIE Ermöglicht die Figur Viola damit auch Empowerment oder eine Reflexion über gesellschaftliche Erwartungen? Viola kommt in eurer Lesart ja gerade in der Verwandlung zu sich selbst.
PATRICE Genau, das wahre Ich zeigen. Das ist ein Thema für viele auf unterschiedlichen Ebenen und auch queere oder Trans*Menschen können sich da total relaten. Wenn ich an meine Schulzeit denke, war da kein Raum, sich wirklich zu zeigen. Ähnlich stelle ich mir das für Viola im höfischen Umfeld zur Shakespeare-Zeit vor. In Viola sehe ich einfach diese Prinzessin, die immer am Hof sein muss – die schöne Hülle, die perfekte Projektionsfläche. Das wird im Text oft thematisiert.

HENRI Wenn man jung und auf der Suche nach sich selbst ist, ist es beruhigend, sich repräsentiert zu sehen und zu wissen, dass man nicht der einzige Mensch ist, dem solche Gedanken durch den Kopf gehen. Es geht um die gute alte Sichtbarkeit von Lebensentwürfen, die – vorsichtig formuliert – nicht der sogenannten Norm entsprechen, was immer das auch sein mag. Vielleicht sprechen wir besser von der Mehrheitsgesellschaft. Und da ist es ein wichtiger Punkt, zu sehen, dass ein anderes Leben möglich ist – und dass es gut sein kann.

PATRICE Das wollen wir auch dem jungen Publikum mitgeben. Zu sagen: Hey, es ist völlig in Ordnung, als Mann weich und zart zu sein, wie unser schöner Orsino, der ganz Herzschmerz ist. Und gleichzeitig gibt es die Figur der Olivia, die knallhart sagt: Du bist es jetzt, ich will dich. Das ist das Schöne an unserer Erzählweise: Alles ist auch eine Performance, die man sich aneignen, die Spaß machen kann. Es geht nicht nur um Zuschreibungen und Erwartungen.
HENRI Gerade, weil in Filmen, im Theater und allgemein in der öffentlichen Darstellung queere und Trans*Menschen oft als Opfer- oder tragische Figuren am Rande des Zusammenbruchs dargestellt werden, desolat und zum Scheitern verurteilt. Aber es gibt eben auch Held*innengeschichten und Spaß – und das macht Mut.

STEFANIE Genderidentitäten und Liebesbeziehungen sind für Shakespeare oft Themen, um die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche seiner Gegenwart zu verhandeln. Komödiantisch wird das gekoppelt mit einer Reflexion der eigenen Kunstform: Die Figuren sind selbstreflexiv oder machen sich auf einer Metaebene lustig. Ein Flirt mit dem Theater im Theater, das Ensemble als Theatertruppe. Gemeint ist aber immer das große Ganze: die Spielregeln der Gesellschaft.
HENRI Daran kann ich sehr anschließen. Auch unsere Gegenwart ist eine unsichere Zeit, eine Zeit der Extreme. Strukturen und Sicherheiten, die es vermeintlich gab und auf die man sich verlassen konnte, brechen ein. Es gibt so viele Herausforderungen. Inflation, Krieg, Klimakrise, Rechtsruck, ein rasanter technischer Wandel. Aber auch heute entzündet sich die Empörung gern an Genderfragen – und wird aus meiner Sicht auch populistisch genutzt, um von den wichtigen Fragen abzulenken. Gleichzeitig, glaube ich, sind wirklich viele Menschen von der Geschwindigkeit der Veränderungen überfordert und kommen nicht mehr mit.

PATRICE Total, und das sind in der Tat Fragen, die uns in den Proben beschäftigen. Auf einer inszenatorischen Ebene nehmen wir viele Komödienelemente von Shakespeare auf, die mit dem Theater als Kunstform spielen. Dazu arbeiten wir mit bewussten „Gegenbesetzungen“. Birgit Berthold spielt z. B. sehr komisch Sir Toby Rülps, den Onkel der Gräfin Olivia. Oder Mira Tscherne ist als Malvolio zu sehen, der Haushofmeister Olivias, und legt diesen wie einen Pick-Up-Artist an. Sie macht sich über die manipulativen Maschen dieser Männer lustig und nimmt die Rolle gleichzeitig total ernst. Und da ich sie nicht als Mann lese, sondern als Frau, die einen Mann spielt, sehe ich in ihrem Spiel diese subversive Aneignung.

STEFANIE Malvolio hat im Stück die Funktion des Spielverderbers, des Spießers, der auf die Regeln pocht. Am Ende verlässt er die Bühne mit dem Satz „Ich räche mich an dem ganzen Pack.“
PATRICE Genau in diesem Moment kommt z. B. unser Spielprinzip zum Tragen. Wir als Ensemble bleiben eine Theatertruppe, es kommt nicht zum unversöhnlichen Bruch, sondern alle raufen sich wieder zusammen. Und da schlage ich wieder den Bogen zu unserer Gegenwart: Auch die Gesellschaft heute kann nicht über Ausschluss funktionieren. Sondern die Frage muss lauten: Wie können wir zusammenleben, wie können wir im Dialog bleiben? Es braucht Aufklärung und Verständnis, statt das Auseinanderdriften in Extreme oder Filterblasen.
STEFANIE Damit wird Theater auch zu einem Ort der sozialen Fantasie. Henri, aber wie greift die Musik da rein? Ihr arbeitet mit einer modernen Übersetzung, die Shakespeare auch sprachlich näher an ein junges Publikum ranholt. Es gibt neue Songs, ihr spielt live auf der Bühne.

HENRI Gerade das Livespielen bringt nochmal andere Energien auf die Bühne. Wir arbeiten mit verschiedenen Instrumenten und Gerätschaften, sind eingebunden zwischen den Schauspieler*innen und mitten in den Szenen dabei. Und der große Vorteil ist, dass Musik an sich für viele Menschen identitätsstiftend ist und emotional direkt wirkt. Ein Safe Space, ein Ort des Wohlfühlens und des Aufgehobenseins. Musik kann daher auch Theater oder Kunst noch einmal anders zugänglich machen. Gerade Jugendlichen oder Leuten, die wie ich nicht aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld kommen, aber interessiert und offen für Kultur sind. Und ich glaube, das ist spitze.
STEFANIE In „Was ihr wollt“ kommt die Liebe als Experimentierfeld der Beziehungen daher. Ermutigt das Stück, über die eigene Identität und Beziehungen nachzudenken, kurz: was können wir von den Liebesgeschichten lernen?

PATRICE Mir ist wichtig, dass wir zeigen, dass Monogamie ein Konstrukt ist – dass es demgegenüber aber kein Konstrukt Liebe gibt. Liebe existiert. Und für jeden Menschen bedeutet Liebe etwas anderes. Und das ist etwas, was ich gern viel früher hätte lernen wollen.
HENRI Ja, ich denke, wenn sich mehr Menschen geliebt fühlen würden, wäre die Welt ein besserer Ort. Und wenn man vermitteln kann, dass es viele Arten und Wege der Liebe gibt, dann ist das toll: Liebe in Freundschaften oder romantische Liebe, in welcher Form auch immer. Ob man jetzt zwei Menschen liebt, drei Menschen liebt oder wirklich einen Menschen liebt, das ist okay und das kann auch ausprobiert werden. Wichtig ist doch nur, dass Menschen einen Entwurf finden, der zu ihnen passt. Und eine gute Botschaft ist, glaube ich, immer: Probiere es aus. Es geht nicht darum, die Erwartungen aus Medien, Schulbüchern oder von Eltern zu erfüllen. Sondern finde für dich selbst heraus, welcher Lebensentwurf dich glücklich macht.

Fotos: David Baltzer, Sophia Emmerich, Meike Kenn