Magazin „Theater und Schule“

„Theater und Schule“ haben wir unser Magazin überschrieben, das zweimal pro Jahr über Premieren und Repertoire, Vermittlungsformate und Projekte informiert sowie alle Informationen rund um den Theaterbesuch mit Schulklassen und Gruppen bündelt.
Mit unseren Produktionen und partizipativen Angeboten, egal ob in der Schule oder im Theater, laden wir Sie und Ihre Schüler*innen ein, das Theater als einen Möglichkeitsraum zu erleben. Theater kann dabei helfen, die eigenen Sichtweisen zu hinterfragen. Hier können junge Menschen aber auch einen Ort der Identifikation finden, in dem andere Regeln gelten als in der Schule, in der Familie oder unter Freund*innen. Im besten Falle lernen wir im Theater von- und miteinander, gehen Widersprüchen nach und üben uns darin, sie auszuhalten.

Unser Theater will dabei vielfältig sein in Themen, Ästhetiken, Formen und Formaten und sucht immer nach Möglichkeiten der Partizipation für Kinder und Jugendliche. Lassen Sie uns Kompliz*innen sein, damit Ihre Schüler*innen die Erfahrung machen können, dass Theater ein Ort für alle sein kann! Ein Ort, an dem es einen Unterschied macht, ob ich aufmerksam bin oder gelangweilt, wo jede einzelne Person auf der Bühne oder im Publikum, im Foyer, Workshop oder Klassenzimmer Teil eines Moments ist, der sich genauso kein zweites Mal herstellen lässt.

Theater und Schule #4

Spielzeit 2023/24
Februar – Juli
„Was ihr wollt“ ist nach „Ein Sommernachtstraum“ die meistgespielte Komödie von William Shakespeare im deutschsprachigen Raum. – Über Rollen und Gesellschaftserwartungen, Identität und Genderfragen sprechen Ensemblemitglied Patrice Grießmeier und Musiker Henri Jakobs gemeinsam mit Stefanie Eue aus der Kommunikation.

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Theater für alle – das klingt schön, ist aber weit entfernt von der Realität. Das Format Relaxed Performance versucht das zu ändern und will auch Kindern und Jugendlichen im autistischen Spektrum oder mit Lernschwierigkeiten den Theaterbesuch angenehmer machen. Stefanie Eue aus der Kommunikation sprach mit Berater*in Miles Wendt, Spielleiterin Miriam Cochanski und Referentin für Diversität und Inklusion Maximiliane Wienecke über das Konzept und ihre Erfahrungen damit an der Parkaue.

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Theater und Schule #3

Spielzeit 2023/24
September – Januar

Poesie und Probenklassen

Gespräch mit Alexander Riemenschneider und Simone Albrecht
Über Literaturklassiker, Gegenwartsgeschichten, Erwartungen und Erfahrungen im Zusammenspiel von Theater und Schule sprachen Alexander Riemenschneider, Intendant und Regisseur, und Simone Albrecht, Deutschlehrerin am Otto-Na­gel­-Gymnasium in Marzahn­-Hellersdorf, vor den Sommerferien.
Das Gespräch führte Stefanie Eue aus der Kommunikation.
Foto: Dave Großmann
„Muss ich das gelesen haben?“, fragt Autorin Teresa Reichl in den Sozialen Medien und trifft damit den Nerv von Jugendlichen, die enga­ giert mit ihr über Klassiker und neue Bücher disku­ tieren. Auch uns im Theater beschäftigt, was für junge Menschen interessant ist und welche Stoffe die postmigrantische Gegenwart spiegeln. Gleich­ zeitig kennen wir die Lektüreempfehlungen für den Unterricht. Gegenwartsdramatik scheint keine Rolle zu spielen.

SIMONE Das stimmt, in den Empfehlungen für Epik und Lyrik gibt es Zeitgenössisches, für die Dramatik nicht. Da gibt es anscheinend eine Scheu, es werden viele Klassiker empfohlen. Das ist schade, denn oft erreichen wir die Schüler*innen mit diesen Stoffen nicht so gut. Ausnahmen gibt es natürlich: Zuletzt habe ich mit einer 9. Klasse „Die Räuber“ von Schiller gelesen: zwei Brüder, die sich streiten – das funktionierte gut. Auch „Maria Stuart“: zwei Frauen im „Zickenkrieg“ – super. Doch trotzdem: Moderne Stücke im Unterricht wären eine Chance, auch für das Schultheater.

Von Freundschaft und der Rettung der Welt

Gespräch mit Ebru Tartıcı Borchers und Mathias Spaan
In den Sommerferien sprachen die beiden Regisseur*innen Ebru Tartıcı Borchers und Mathias Spaan mit Stefanie Eue aus der Kommunikation über die Inszenierungen „Fiesta“ und „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“, über klappernde Brotdosen bei Probenbesuchen und gute Geschichten für Kinder und Jugendliche.
Wir eröffnen die Theatersaison mit dem neuen Kinderstück „Fiesta“. Erzählt wird von Nono und seinem 10. Geburtstag. Als ein Sturm übers Land fegt und es deswegen eine Ausgangssperre gibt, droht seine Geburtstagsparty abgesagt zu werden. Doch das lassen Nono und seine Freund*innen nicht zu. Ebru, ihr seid schon mitten in den Proben. Worauf legt ihr den Schwerpunkt?

EBRU Mich hat direkt einiges für „Fiesta“ einge­nommen, z. B. wie das Stück Gruppendynamiken verhandelt. Nonos Freund*innen leben alle im selben Wohnblock und können sich deswegen trotz Ausgangssperre treffen. Nono wohnt in einem anderen Block und ist plötzlich ausgeschlossen. Wie handeln die Kinder in dieser Ausnahmesitua­ tion, wer darf mitmachen und gestalten – das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen. Dazu kommt, dass „Fiesta“ die Geschichte als Rückblick erzählt und Nono selbst gar nicht auf der Bühne ist. Alles, was wir über die Hauptfigur erfahren, erfahren wir also durch seine Freund*innen und deren Wahrnehmung. Dieses Spiel mit Perspektiven ist theatral sehr reizvoll für uns.

Theater und Schule #2

Spielzeit 2022/23
Februar – Juli

Wenn das Klassenzimmer zur Bühne wird

Ein Gespräch über Theater in Schulen mit Matin Soofipour Omam, Trang Trần und Kristina Stang. Gemeinsam mit Stefanie Eue aus der Kommunikation sprachen die drei Dramaturginnen und Vermittlerinnen über Klassenzimmerstücke, Outreach-Projekte auf dem Schulhof und die Kreativität von Schüler*innen.
Gespräch mit Kristina Stang, Matin Soofipour Omam und Trang Trần
Bevor wir über einzelne Inszenierungen und Projekte sprechen, möchte ich mit einer offenen Frage starten: Welche Chancen liegen darin, mit Theater in Schulen zu gehen?

TRANG Für die Künstlerische Vermittlung liegt das Potenzial darin, durch partizipative Projekte Beziehungen aufzubauen und mit Schüler*innen nachhaltig in einen Austausch zu treten. Mit der Arbeit in Schulen können wir das Theater als Raum und Institution öffnen: Die Parkaue ist nicht nur das Theater in Lichtenberg, sondern die Parkaue kann auch woanders in der Stadt sein. Besonders wenn junge Menschen bereits ein bestimmtes Bild vom Theater als Institution im Kopf haben und das mit gemischten Gefühlen verbunden ist, ist es wichtig, Kunst als Teil des Alltags erfahrbar zu machen.

MATIN Wie sich Schulalltag und Kunst ineinander verwickeln lassen, sehen wir z.B. gut in den „Drei-Tage-Performances“, über die wir im letzten Magazin schon gesprochen haben und die ihre Geschichten über drei Tage hinweg in den unterschiedlichsten Räumen der Schulen entfalten – also den üblichen Rahmen von Ort und Zeit
sprengen. Für die Kinder ist das ein Happening, sie gestalten mit und interagieren mit den Spieler*innen. Hier wagen wir gemeinsam mit den Schulen ein Experiment, auf das sich alle einlassen und das auch die Schulen sehr engagiert mittragen.

KRISTINA Ich finde es wichtig, mit Theater in Schulen zu gehen, denn Schulen sind Lebensräume. Das Leben von Kindern und Jugendlichen findet zu einem großen Teil in Klassenräumen statt. Da brauchen Künstler*innen sensible Antennen: Was ist hier im Raum, wie ist die Stimmung? Das ist wie Gast sein in einem Haus, wo man die Regeln
erkunden muss – während man aber schon anfängt mit dem Workshop oder der Inszenierung. Es ist
ein Abenteuer, in das man sich hineinstürzt.

In Grundschulen zeigen wir seit November „Wutschweiger“, die Geschichte zweier Kinder, deren Eltern die Klassenfahrt nicht bezahlen können. Kristina, du hast die Proben begleitet und bist bei jeder Vorstellung dabei. Weshalb eignet sich „Wutschweiger“ so gut als Klassenzimmerstück?

KRISTINA Weil die Themen relevant sind, auch in vielen Klassenräumen. „Wutschweiger“ erzählt von wachsender Armut, von Privilegien und sozialer Benachteiligung–aber nicht von außen, sondern aus der Perspektive der beiden Kinder. Es ist auch die Geschichte einer beginnenden Freundschaft, von Zusammenhalt und Solidarität. Die Inszenierung hat eine kleine Form, die Geschichte und die Bilder entstehen aus der Sprache heraus. So sind wir total beweglich und können in jedem Klassenraum spielen, egal wie z.B. die Tische stehen.

Wir gehen nicht nur ins Klassenzimmer, sondern mit einer mobilen Bühne auch auf den Schulhof. Das Projekt ist partizipativ gedacht und mit Schuljahresbeginn gestartet. Was waren die Grundgedanken?

TRANG Wir sehen die mobile Bühne als ein Tool, um direkt in Schulen mit jungen Menschen Kunst zu produzieren und etwas zu gestalten. Dabei ist es uns auch im Sinne eines Outreach-Ansatzes wichtig, verstärkt mit Schüler*innen zu arbeiten, die nicht die klassischen Theatergänger*innen sind, die vielleicht in ihrem Alltag Erfahrungen von Diskriminierung gemacht haben. Da sendet die mobile Bühne das Signal: Wir kommen zu euch, wir geben
euch eine Plattform für eure eigenen Formen des Selbstausdrucks. Und im schulischen Umfeld ist das besonders, denn da sehen auch Mitschüler*innen und Lehrer*innen im besten Fall eine Hingabe zum Kreativen oder sogar versteckte Talente, die bislang so noch nicht gesehen wurden.

Das dritte Projekt, über das wir ausführlicher sprechen, ist die interaktive Performance „Stranger Life Fantasies“, die im Klassenzimmer stattfindet, aber kein klassisches Klassenzimmerstück ist.

MATIN Genau, das Projekt macht den Klassenraum sogar zur Hauptfigur. Für die Arbeit haben wir das Künstler*innen-Duo PINSKER+BERNHARDT eingeladen, das an der Schnittstelle von Performance und Choreografie arbeitet. Die beiden gehen von einer Frage aus, die junge Menschen sehr oft gestellt bekommen und die manchmal nervig ist: Was willst du werden? Hier spielen PINSKER+BERNHARDT mit Perspektiven. In ihrer Performance ist es das Klassenzimmer, das sich mit dieser Frage an eine Berufsberatung wendet. Die theatrale Situation ist dann, dass 2–3 Berater*innen in die Klasse kommen und das mit den Kids verhandeln: Was könnte euer Klassenzimmer werden, hat es wirklich Chancen, sich umzuorientieren?

Diese Umkehrung hat Witz. Gleichzeitig stellt die Performance die Klassenfrage im Klassenzimmer, so hast du es bei der Spielzeitpräsentation gefasst.

MATIN Ja, denn die Frage „Was möchtest du werden?“ hängt eng mit gesellschaftspolitischen und sozialen Aspekten, wie Klassenzugehörigkeit, Genderpositionierungen, Privilegien und Zugängen zusammen. Die eigentliche Frage ist also: Wer gestaltet Zukunft und wie viel Gestaltungsraum hat jede*r Einzelne? Denn Zukunftswünsche können durch soziale Ungleichheiten eines Systems zu unerreichbaren Fantasien werden. Gleichzeitig steckt in der Frage nach dem „Was-Werden“ auch das „Was-Werden-Wollen-Müssen“. Was meint Leistungsdruck heute? Die Welt verändert sich so schnell, die Entwicklungen sind rasant. Wird es Berufe, so wie wir sie kennen, in zehn Jahren noch
geben? Wie können wir eine Vorstellung von Berufen entwickeln, die es heute noch gar nicht gibt?

TRANG Und hier ist vielleicht auch die Wechselwirkung interessant. Es wird oft von jüngeren Generationen wie Generation Z gesprochen, die sagen: Arbeit ist nicht alles. Was möchte ich werden, was jenseits von Arbeit liegt? Wenn wir die Frage so umdenken, was können wir dann als erwachsene Menschen von jungen Menschen lernen?

Gibt es diese Wechselwirkung auch bei „Wutschweiger“? Allein räumlich stellt die Inszenierung eine besondere Nähe her, verändert sich dadurch der Austausch mit den Klassen?

KRISTINA Es ist auf jeden Fall für die Spieler*innen und mich als Begleitung ein anderes Sich-Einlassen. Wir erleben jede Reaktion der Kinder und können im Spiel viel individueller auf sie eingehen. Und daran erinnern sich alle noch in der Nachbereitung, die auch nicht nur frontal, sondern spielerisch ist. Wir entwickeln Situationen weiter: Wo hätte man eine andere Abbiegung nehmen können? Warum war das unfair? Die Klasse 3a von der Grundschule an der Marie, wo wir die Generalprobe gezeigt haben, hatte z.B. spontan beschlossen, eine Fortsetzung zu schreiben. Da werden die Kinder zu Mitautor*innen und verhandeln die Situation des Stücks – aber sie tun das als eine Gruppe, die es vorher schon gab und die es danach geben wird. Das heißt, da ist die Möglichkeit, über die Kunst Erfahrung im sozialen Raum der Klasse etwas aufzubrechen oder anzustoßen, ohne dass das ein pädagogisches Ziel wäre oder man mit dieser Absicht in die Klasse hineingeht.

Der Gestaltungsraum beim Projekt mobile Bühne an der Carl-von-Ossietzky-Schule ist für die beteiligte Klasse nochmal viel größer. Was ist das Besondere?

TRANG Wir arbeiten mit der Musikerin Biljana Pais und dem Rapper Ilhan44 zusammen, die in einer 7. Klasse seit Oktober regelmäßig Workshops geben. Ilhan war z.B. dort selbst Schüler und ist auch in dem Kiez sozialisiert, die Lehrerin ist engagiert und kennt die Bedarfe der Klasse–das sind Faktoren, die das Projekt natürlich begünstigen. Zum Abschluss gibt es eine Show auf der mobilen Bühne. Die Mobilität der Bühne ist für uns zentral, denn Räume sind auch in Schulen knappe Ressourcen. Aber jede Schule hat einen Schulhof. Und da lässt sich eine Bühne auch aufbauen, ohne radikal den Betriebsablauf in der Schule zu unterbrechen. Wir versuchen mit der mobilen Bühne, die tradierten Hierarchien und Beziehungsmuster für eine Weile zu unterbrechen. Die Schüler*innen werden zu Expert*innen, die Lehrer*innen schauen zu und erleben ihre Klasse hoffentlich auf eine andere Art und Weise.

Sollte Theater in der Schule, vor allem wenn wir über Öffnungsprozesse nachdenken, ein fester Baustein in der Spielplanung sein? Macht Theater in Schulen vielleicht auch gerade Lust auf einen Gegenbesuch?

KRISTINA Natürlich möchten wir, dass Kinder und Jugendliche zu uns kommen, um den besonderen Ort Theater kennenzulernen. Das finde ich auch richtig, aber eben nicht ausschließlich. Weil ich das Gefühl habe, dass in vielen gesellschaftlichen Sektoren die Institutionen diffundieren müssen. Das ist ein größerer Trend und gilt nicht nur im
Theater. Solange wir in den Institutionen bleiben, haben wir die Illusion zu wissen, wer unser Publikum ist. Wenn wir in Schulen gehen, erleben wir auch nicht die ganze Realität, weil wir natürlich in einem geformten Raum unterwegs sind. Aber der Horizont wird weiter.

MATIN Beim Saisonauftakt für Lehrer*innen „Nah dran“ haben wir genau darüber gesprochen: Kommt das Theater in die Schule oder kommt die Schule ins Theater? Wir sprachen über Wege und die organisatorische Arbeit von Lehrer*innen, über inklusive Klassen und Teilhabe als kultur- und bildungspolitischen Auftrag. Wir wünschen uns beides: dass Kinder die Erfahrung mit Kunst in der Schule machen, aber auch zu uns ins Theater kommen, hier die Atmosphäre und das gemeinsame Theatererleben mit vielen anderen Zuschauer*innen kennenlernen. Aber wir wissen, dass Ausflüge immer auch eine Frage von Ressourcen sind.

Im ersten Magazin stand ein Interview unter der Überschrift „Wer lernt hier was und von wem?“ Stellt sich diese Frage beim Thema Theater in Schulen noch einmal anders?

MATIN Ich möchte nicht vom „lernen“, sondern von „erfahren“ sprechen. Wir lehren nicht, sondern wir erzählen und machen etwas erfahrbar. Wir geben Geschichten weiter. „Stranger Life Fantasies“ beantwortet nicht die Frage „Was willst du werden?“, aber öffnet sie. In der Nachbereitung von „Wutschweiger“ geht es darum, wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Figuren anders gehandelt hätten. Das ist das Aufregende am Theater: kein „Welt erklären“ oder „etwas beibringen“, sondern gemeinsam nachdenken und dieses Nachdenken ins Spiel zu übersetzen.

KRISTINA Das sehe ich auch so, aber ich glaube, es ist nie ein freier Raum des gemeinsamen Nachdenkens. Auch Schule ist ein Raum, der von sozialen Rollen bespielt wird. Auf der einen Seite gibt es die Schauspieler*innen und mich als Vermittlerin. Auf der anderen Seite gibt es Schüler*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen. Und es gibt so viele Mikroregeln, die die Begegnung vor Ort mitbestimmen.

TRANG Das zu reflektieren ist wichtig und hat auch stark das Konzept für die mobile Bühne mitbeeinflusst. Wir arbeiten hier eng mit Künstler*innen zusammen, die sich zum Beispiel als BIPoC positionieren oder die eben mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und einer Antidiskriminierungskompetenz in die Klasse gehen. Wir glauben, dass diese Begegnung einen Unterschied macht. Und dass eine andere Form des Lernens im Sinne von verkörpertem Lernen möglich ist, weil die Künstler*innen Identifikationsmöglichkeiten bieten oder eine andere Form von Empathie haben. Und weil sie den Kontext der Lebenswelten kennen. Wir verfolgen dieses Projekt langfristig, wollen dabei selbst dazulernen und die Wechselwirkungen zwischen Theater und Schüler*innen verstehen. Und zugleich bekommen wir auch viel zurück, haben Spaß und schöpfen selbst Energie aus dem Kontakt zu jungen Menschen. Wir wollen, dass junge Menschen zu uns kommen, wir wollen zu ihnen gehen und wir wollen sie wertschätzen, deswegen sind wir ein Kinder- und Jugendtheateer.

Sich künstlerisch entfalten

Foto: Pia Henkel
Die sehbehinderte Künstlerin und Behindertenrechtsaktivistin Sophia Neises und Pauri Röwert aus dem Team Künstlerische Vermittlung und Partizipation im Gespräch über TUSCH–Theater und Schule, Audiodeskription und inklusives Theater für junges Publikum.
Gespräch mit Sophia Neises und Pauri Röwert
Im Rahmen von „TUSCH–Theater und Schule“ kooperieren wir seit Oktober neu mit der Paul-und-Charlotte-Kniese-Schule, einer inklusiven Gemeinschaftsschule in Berlin-Lichtenberg. Pauri, du begleitest das aus der Künstlerischen Vermittlung heraus. Was sind erste Pläne?

PAURI Die Kooperation ist auf drei Jahre angelegt, und wir wollen Theater und Schule in jeglicher Form miteinander in Kontakt bringen. Unser Fokus ist es, gemeinsam Projekte und Begegnungsformate zu erfinden. So sind neben Theaterworkshops z.B. auch Angebote zur Berufsorientierung geplant, die die Theaterarbeit hinter den Kulissen erfahrbar machen. Gerade waren wir beim Bundesweiten Vorlesetag in der Schule, eine Gruppe von Lehrer*innen wiederum hat schon im November eine Abendvorstellung bei uns besucht.
Grundsätzlich möchten wir für mehr Teilhabe sorgen und den Kniese-Schüler*innen vielfältige Möglichkeiten bieten, sich künstlerisch zu entfalten. Deswegen wollten wir unbedingt mit Sophia als behinderte Künstlerin und Behindertenrechtsaktivistin zusammenarbeiten. Klassischerweise sind es oft nichtbehinderte Menschen, die mit behinderten Kindern arbeiten – wir wollen den Schüler*innen jetzt eine andere Rahmung, eine andere Erfahrung ermöglichen.

SOPHIA Ich selbst wurde in meiner Schulzeit enorm empowert. Ich war in einer Theatergruppe, habe später eine Theater-AG geleitet und wurde in diesem Prozess bereits künstlerisch qualifiziert. Das ist für mich auch eine treibende Kraft in Projekten wie TUSCH: Wie kann ich Handwerkszeug mitgeben und ermutigen? Wie kann ich Schüler*innen in ihrer Kreativität bestärken, ihnen vielleicht die Co-Leitung von Übungen übertragen oder mit ihnen gemeinsam den nächsten Workshop gestalten? Denn wie wenige Praktika und Ausbildungsgänge sind barrierefrei, wie selten bewerben sich behinderte Menschen an Kunsthochschulen oder hatten die Möglichkeit, den erforderlichen Schulabschluss dafür zu erreichen. Das merke ich auch, wenn ich auf der Bühne arbeite und wir Nachgespräche führen, dass behinderte Menschen aus dem Publikum ganz gezielt mich adressieren: „Wie hast du das geschafft?“

Die Rolle von Vorbildern und die Frage, wer kann sich identifizieren, das macht sicher viel aus. Sophia, du arbeitest seit November künstlerisch mit den Schüler*innen und gibst Klassen-Workshops. Wie hast du das Projekt vorbereitet, was war für dich wichtig?

SOPHIA Wichtige Bausteine in der Vorbereitung waren die Schulbegehung und der Auftakt-Workshop mit dem Kollegium. Da ging es um Theaterspielen und Spielanleitungen, aber auch um Sensibilisierung zu Behinderung, Ableismus und Privilegien. Im Schulkontext wird z.B. vom „Förderschwerpunkt Sehen“ oder „Förderschwerpunkt Hören“ gesprochen. Die Frage sollte aber eher sein: Wie ist deine Lebensrealität und wie können wir dich dementsprechend fördern? Behinderung entsteht, wenn die Umgebung nicht funktioniert – Menschen werden behindert. Gerade in einer inklusiven Schule finde ich wichtig, mit welchem Ansatz die Lehrenden unterrichten. Für die Arbeit mit den Klassen habe ich z.B. die Barrierefreiheitsbedarfe der Jugendlichen erfragt. Ich möchte keine Diagnosen wissen, das ist defizit-orientiert und medizinisch fokussiert, das interessiert mich nicht und geht mich nichts an. Aber worauf kann ich achten, um einen guten Workshop vorzubereiten, der wirklich für die ganze Klasse funktioniert?

PAURI Viele Lehrer*innen haben uns direkt nach dem Auftaktworkshop zurückgemeldet, dass für sie Türen im Kopf aufgegangen sind und Sophia ihnen viele neue Denkanstöße geben konnte. Wichtig in der Vorbereitung war für uns als Theater auch, mit der Schule gemeinsam einen Rahmen zu schaffen, in dem Sophia künstlerisch gut und möglichst barrierefrei arbeiten kann.

SOPHIA Ja, normalerweise muss ich mir selbst die Strukturen bauen und dafür enorm viel kommunizieren. Dass das jetzt die Parkaue für mich übernommen hat, war eine neue Erfahrung für mich. Das Team der Künstlerischen Vermittlung hat u.a. geklärt, wie wichtig es ist, dass ich immer im gleichen Raum arbeite. Denn diesen Weg habe ich geübt – und nur, wenn ich mich wirklich auskenne, kann ich selbstbestimmt arbeiten.

Was bedeutet inklusive Theaterarbeit für euch, ist Inklusion für euch ein relevanter Begriff?

SOPHIA Wenn wir von Inklusion sprechen, bin ich oft erstmal vorsichtig, denn Inklusion wird meist wie eine Checkbox verstanden: Okay, wir haben eine behinderte Person in der Klasse, also sind wir inklusiv und Punkt. Aber das ist nicht Inklusion. Inklusion bedeutet, dass wir die Bedingungen anpassen an ein Gruppenbedürfnis. Sobald ich in diesem Raum bin, ist das Gruppenbedürfnis, dass ein geschriebener Text vorgelesen wird. Das als Gruppenregel zu setzen, weil wir uns gemeinsam dafür entschieden haben und nicht als Ausnahme für mich. Wenn einfach klar ist: alles, was geschrieben ist, wird vorgelesen. Oder: alles, was gesprochen wird, übersetzen wir in Gebärdensprache. Für mich ist Inklusion, wenn wir es schaffen, Bedürfnisse zu normalisieren. Und geduldig miteinander sind und uns nicht ausfragen: Was ist mit deinen Augen passiert oder woher kommst du oder warum benutzt du kein Pronomen? – Diese ganzen Dinge, die Menschen ins Aus stellen und sagen: Wir sind die Norm, und du gehörst
nicht dazu. Das ist nicht Inklusion.

PAURI Ich finde es sinnvoller, über Barrierefreiheit nachzudenken, weil es dabei mehr ums Aktiv-Werden und Handeln geht. Beim konkreten Abbau von Barrieren können wir uns nicht allein auf den Weg machen. In der Parkaue beispielsweise brauchen wir unbedingt den Austausch und die Prozessbegleitung von behinderten Menschen, um unsere Räume und Angebote für alle zugänglich zu machen.

Ein Barrierefreiheitsangebot für blindes und sehbehindertes Publikum sind Vorstellungen mit Audiodeskription (abgekürzt AD), in denen, meist über Kopfhörer, live beschrieben wird, was auf der Bühne passiert. In Berlin gibt es dazu ein Projekt, den Berliner Spielplan Audiodeskription, mit dem auch die Parkaue kooperiert. Pauri, du begleitest die Tastführung für die AD-Vorstellungen von „Funken“. Was war dir in der Konzeption dafür wichtig?

PAURI Dass die Teilnehmer*innen genug Zeit haben, um den Raum, die Kostüme und die Requisiten der Inszenierung über Berührungen und Beschreibungen kennenzulernen. Wir gehen zuerst die Bühne gemeinsam ab, um die Tiefe und Länge genau erfahrbar zu machen. Die Kostüme und Requisiten können taktil erfahren werden. Gerade in „Funken“ spielen die Kostüme eine wichtige Rolle für die Herstellung der Figuren. Die Schauspieler*innen kommen am Ende der Führung auch dazu und beschreiben sich selbst.

Audiodeskription wird oft im Nachgang einer Inszenierung erstellt. Was wäre für euch der nächste Schritt, wie können wir AD auch als Kunst denken?

SOPHIA Wenn AD zu einer fertigen Inszenierung dazugefügt wird, ist die Dramaturgie nicht rund, weil Audiobeschreiber*innen die Lücken finden müssen, wo beschrieben werden kann. Die AD ist dann ein reiner Service, aber künstlerisch habe ich nicht so einen interessanten Abend, wie wenn eine Produktion auch ästhetisch für mich mitgedacht worden wäre. Wenn wir Kunst schaffen wollen, die für verschiedene Menschen funktioniert und inklusiv ist, ist es super wichtig, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken.

PAURI Ich habe letztens das Tanzstück „Soiled“ von Michael Turinsky gesehen, in dem Sophia performt. Da war die Audiodeskription für alle hörenden Menschen ein essenzieller Teil der Aufführung und hat rhythmisch die Choreografie auf der Bühne begleitet. Die Beschreiberin saß gut beleuchtet im Publikum, war quasi neben den drei Performer*innen auf der Bühne die vierte Mitspielerin. Was hatte das für eine große Qualität und wieviel reicher wurde mein Abend dadurch! Und genau das – Barrierefreiheit ästhetisch denken – wollen wir als Parkaue langfristig auch in der Spielplanung berücksichtigen.

SOPHIA Das hat für mich mit einer Haltung zu tun. Wir machen Kunst–und die Frage ist: Wie machen wir den Theaterabend spannend für alle? Wie können wir niedrigschwellig Partizipation ermöglichen und das kreativ denken, wie lösen sich Theater von einem starren Verständnis von Audiodeskription? Nehmen wir an, ein Stück funktioniert stark über Sprache und bietet dem Publikum sowieso ein spannendes Hörerlebnis–dann braucht das vielleicht keine AD, sondern als Rahmung nur eine Tastführung. Oder wir bitten die Moderation bei Veranstaltungen: Beschreib dich selbst und die Bühne. Oder ist es ein kleiner Drache in der Ecke der Bühne, der erzählt. Es gibt nicht die klare Checkliste für Audiodeskription, wenn wir sie als Kunstform denken.

Und Barrierefreiheit fürs blinde Publikum geht natürlich über die Audiodeskription hinaus. Wir wissen, dass viele blinde Menschen nicht ins Theater gehen, weil sie sich an dem Ort nicht auskennen, keine Begleitperson gefunden haben.

SOPHIA Und das Theater keine Barrierefreiheit geschaffen hat. Was Institutionen tun können, ist z.B. ein Pick-Up-And-Drop-Off-Service an der nächsten U-Bahn-Station, ein Leitsystem und geschultes Servicepersonal, das weiß, wie man einer blinden Person assistiert. Tickets müssen barrierefrei online gekauft werden können.

Ja, da haben die Kulturhäuser und auch wir als Parkaue noch einiges zu tun, denn diese Rahmenbedingungen sind total wichtig. Damit sich Audiodeskription nachhaltig etablieren kann, braucht es auch eine Regelmäßigkeit, eine Zuverlässigkeit des Angebots. Onlineticketing via Smartphone ist z.B. für Jugendliche und junge Erwachsene klar ein Thema. Habt ihr den Eindruck, dass jüngere Menschen Barrierefreiheit selbstbewusster einfordern?

SOPHIA Wir alle wachsen auf und leben in einer ableistischen Gesellschaft. Behinderung oder behindertes Leben wird generell abgewertet, in der Medizin, in allen Lebensbereichen, im kapitalistischen Arbeitsmarkt usw. Und wir alle tragen einen internalisierten Ableismus in uns, wollen kein Hörgerät nutzen, selbst wenn wir es bräuchten; sträuben uns gegen einen Gehstock, selbst wenn das Gehen damit einfacher wäre. Und ich erlebe auch, dass viele Jugendliche ihre Hilfsmittel eben nicht nutzen, um nicht aus der Norm herauszufallen, obwohl diese helfen würden, z.B. aktiv am Unterricht teilnehmen zu können. Ich habe das Gefühl, der Diskurs um Rassismus ist einige Jahre
weiter als das Sprechen über Ableismus. Selbst der Begriff ist vielen unbekannt. Wenn ich in einer Tanzproduktion darauf hinweise, dass etwas enorm ableistisch ist, gibt es überraschte Reaktionen, wo hingegen Blackfacing endlich seine Salonfähigkeit verloren hat. Durch das Fehlen von Vorbildern und die Existenz ableistischer Strukturen, glaube ich, dauert es noch, bis eine Forderung aus der Community auch von jüngeren Menschen kommt.

PAURI Ich finde es gerade deswegen so wichtig, dass wir immer wieder Räume herstellen, in denen über solche Themen gesprochen werden kann und in denen behinderte Kinder nicht die einzigen Menschen mit Behinderung im Raum sind, sondern in der Gruppe aufeinander treffen, sich gegenseitig stärken und gemeinsam Theater spielen. Ab Januar bieten wir deshalb einen Spielclub für behinderte und nichtbehinderte Kinder zwischen 8 und 12 Jahren an. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Miriam Cochanski und mir entwickeln die jungen Teilnehmer*innen dort ein eigenes Theaterstück, das im Juni auf der Bühne der Parkaue präsentiert wird.

Theater und Schule #1

Spielzeit 2022/23
September – Januar

Nah an der Gegenwart

Ein Gespräch über neue Erzählungen für junges Publikum mit Intendantin Christina Schulz, Dramaturgin Matin Soofipour Omam und Pauri Röwert aus dem Team Künstlerische Vermittlung und Partizipation. Gemeinsam mit der Autorin Luna Ali sprachen die drei über Erfahrungen in der ersten Spielzeit und fragten: Welche Geschichten bewegen Berliner Kinder und Jugendliche? Wie können sich Theater und Schule begegnen? Und welche partizipativen Angebote gibt es?
Foto: Paul Lovis Wagner
Luna Ali Im Gespräch mit Pauri Röwert, Christina Schulz und Matin Soofipour Omam
Bei Hannah Arendt findet sich der Gedanke, dass mit der Geburt eines jeden Menschen ein Anfang gesetzt wird. Daran musste ich denken, als ich mich auf unser Treffen heute vorbereitet habe. Ihr arbeitet für und mit jungen Menschen. Eure erste Spielzeit stand unter dem Vorzeichen eines Neustarts auf mehreren Ebenen. Wenn ihr zurückschaut: Welche Fragen haben euren Start an der Parkaue begleitet?

PAURI Wir wollten und wollen Räume für junge Menschen öffnen. Räume der gelebten Partizipation und des Empowerments. Mit Blick auf die sehr diverse Berliner Stadtgesellschaft fragen wir uns: Wer wurde bisher nicht angesprochen, nicht im Programm mitgedacht? Wer konnte nicht teilhaben? Deshalb wollen wir Barrieren abbauen und laden Kinder und Jugendliche ein, die Parkaue auch aktiv mitzugestalten und ihre Themen selbst zu setzen.

CHRISTINA Oft sind Jugendliche näher am Puls der Zeit und fragen: Warum ist es so – und warum kann es nicht anders sein? In einer Gegenwart, in der „die Erwachsenen“ oft keine ausreichenden Antworten auf die drängenden Fragen mehr geben, stellen wir junge Perspektiven in den Mittelpunkt. Dieser Energie auch Raum zu geben und die Parkaue als einen Ort zu denken, an dem sie zu einem gesellschaftlichen Standpunkt wachsen kann, ist uns ein großes Anliegen.

Wie beeinflusst das die Auswahl von Stoffen für den Spielplan?

MATIN Unsere Hauptfrage war: Wie können wir direkter auf die Gegenwart reagieren? Mit welchen Geschichten und Spielformen gehen wir – nach zwei Jahren Pandemieerfahrung – auf Schulklassen und Familien zu? Uns haben Figuren interessiert, die ihren Platz in der Welt suchen und erleben, dass ihr Handeln einen Unterschied macht. Da ist z. B. der junge Joey in „Du blöde Finsternis!“, der in einer Welt aufwächst, in der die Klimakrise das Leben der Menschen bestimmt, und der sich aber eben nicht zurückzieht, sondern rausgeht, Verbündete sucht und sich engagiert.

CHRISTINA Wir wünschen uns, dass Erwachsene, Kinder und Jugendliche über das, was sie gemeinsam sehen, auch miteinander ins Gespräch kommen. Ich denke da z. B. an die Szene zwischen Daniel und seiner Mutter in „Krummer Hund“, in der es aus ihm herausbricht: „Warum hast du mich nicht gefragt?“ In dem Moment sind selbst die Jugendlichen, die vorher vielleicht nicht ganz aufmerksam waren, wieder nah dran. Da entsteht plötzlich ein Dialog zwischen Generationen. Das kann das Kinder- und Jugendtheater viel mehr als ein Theater für Erwachsene.

MATIN Und es ist auch so: Wenn wir ein Theaterstück für Kinder ab fünf machen, dann meinen wir auch das 50-jährige Kind, das sich in der Geschichte oder Ästhetik wiederfinden kann. Für uns gilt: bei Altersempfehlungen gibt es ein „ab“, aber kein „bis“.

Im Programm fällt eine große Bandbreite auf: Jugendstücke und Tanzproduktionen stehen neben Stückentwicklungen, Performances und Kooperationen. Warum ist das so?

MATIN Wir möchten bewusst vielfältig in den Formaten sein, auch Tanz und Performatives für junges Publikum zeigen. Inhaltlich suchen wir zugleich nach einer Vielstimmigkeit. Wir verbinden uns mit Initiativen, die an der Schnittstelle von Theater und Aktivismus arbeiten. In der neuen Spielzeit gibt es eine Schreibwerkstatt von BITTER (SWEET) HOME, in der BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) Autor*innen kollaborativ neue Texte fürs Theater entwickeln, mit einer antirassistischen Haltung – und zum ersten Mal für ein junges Publikum.
Gemeinsam mit dem Retzhofer Dramapreis fördern wir Autor*innen und stärken das Schreiben für Kinder- und Jugendtheater. „Funken“ war beispielsweise das Gewinnerstück 2021.

PAURI Auch in den Schulworkshops bieten wir bewusst ganz unterschiedliche Zugänge zu den Inszenierungen an: über Inhalte, über Sprache, aber auch über Tanz und Bewegung. Wir wollen alle Schulformen erreichen. Dabei ist Teil unserer Arbeit zu reflektieren, welche Aspekte kulturelle Teilhabe erschweren oder gar verhindern. Wir erleben den Theatermoment gemeinsam und sind doch alle verschieden und individuell – wie soll da Vermittlung über nur einen Zugang funktionieren?

In diesem Zusammenhang denke ich an den Kinder- und Jugendbeirat, den es seit Anfang des Jahres an der Parkaue gibt. Wie beeinflusst der Beirat eure Arbeit in der Dramaturgie und Vermittlung?

PAURI Der Beirat ist aus dem Paradox entstanden, dass Theater für junge Menschen fast ausschließlich von Erwachsenen gemacht wird. Im Beirat sind Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren aktiv, die die Parkaue mitgestalten wollen. Wir besuchen mit den Mitgliedern Theaterstücke und diskutieren viel. Welche Themen sind für sie interessant? Welche künstlerischen Formen, welche Künstler*innen?

MATIN Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mehr Mitspracherecht brauchen, wenn es um ihre Belange geht. Der Beirat ist eine Idee, jungen Menschen mehr Gestaltungsraum zu geben. In der neuen Spielzeit beziehen wir den Beirat z. B. gezielt in die Entwicklung des Spielplans ein. Wir lesen zusammen neue Kinder- und Jugendstücke und können die Stoffe testen: Ist das eine Geschichte, die sie auf der Parkaue-Bühne sehen wollen?

Schulklassen sind für euch eine der wichtigsten Publikumsgruppen. Welche konkreten Projekte setzt ihr für und mit Schulen um?

MATIN In neuer Form bringen wir Theater und Schule zusammen mit den „Drei-Tage-Performances“. Das sind drei Solo-Stücke, die jeweils für drei Tage in Grundschulen stattfinden. „Stroguft“ z. B. beginnt damit, dass eines Morgens ein riesiges Ei im Schulflur liegt.

PAURI Daraus entspinnt sich eine Geschichte, an der die Kinder ganz aktiv teilhaben. Und die sie einlädt, die Schule als einen Ort der Fantasie und des Abenteuers zu erleben. Wir haben über Ausschlüsse im System gesprochen. Theater kann Schule über solche Projekte in einen anderen Raum verwandeln, in dem nicht Leistungen und Vergleiche zählen, sondern Kreativität und Neugier.

CHRISTINA Schule ist ja ein ganz eigener Kosmos. Einerseits unterliegt sie als System ganz anderen Regeln, in denen sich die Schüler*innen bewegen müssen, anderseits sind Schulen sehr diverse Orte. Wie sich Theater und Schule bereichernd begegnen können, welche Projekte gut funktionieren, das wollen wir Schritt für Schritt erproben.

Da ist TUSCH eine wichtige Berliner Initiative, die seit vielen Jahren Schulen und Theater für jeweils drei Jahre miteinander vernetzt. Ihr beginnt im Herbst eine neue Kooperation.

PAURI Ja, mit der Paul-und-Charlotte-Kniese-Schule, einer inklusiven Schule mit Schwerpunkt auf Sehbehinderung aus Lichtenberg. Wir arbeiten dabei mit der Theaterpädagogin, Performerin und Behindertenrechtsaktivistin Sophia Neises zusammen. Die TUSCH-Kooperation knüpft gut an unsere Zusammenarbeit mit dem Berliner Spielplan Audiodeskription an. Seit letzter Spielzeit bieten wir Vorstellungen mit Tastführungen und Audiodeskription an. Damit wollen wir die Parkaue für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglicher machen.

CHRISTINA Wir fragen uns immer, welche Bedingungen müssen wir schaffen, damit wir ein Projekt durchführen können? Welche Expertise muss vorhanden sein? Wen können wir einladen, uns zu begleiten? Wir haben uns vorgenommen, Barrieren abzubauen. Im Tun stellen wir fest, wo wir noch am Anfang stehen, z. B. bei unserer ersten inklusiven Residenz im letzten Jahr, aber auch, wo wir schon ein gutes Stück vorangekommen sind.

Kinder und Jugendliche können nicht nur in Workshops oder im Beirat aktiv sein, sondern auch in Spielclubs. Welche Bedeutung hat es für junge Menschen, selbst Theater zu machen?

CHRISTINA Das Besondere am Theater ist der Live-Moment. Andere schauen zu und setzen sich dazu ins Verhältnis. Das empfinde ich als eine große Qualität. Für Schauspieler*innen macht es einen Unterschied, wie Einzelne im Publikum reagieren. Diese Erfahrung machen spielende Jugendliche ebenfalls. Das eigene Theaterspielen verändert also auch die eigene Art Theater zu schauen. Wenn z. B. Jugendliche für Jugendliche spielen, erleben wir manchmal eine ganz andere Direktheit, eine andere Identifikation mit den Rollen und Fragen auf der Bühne, als wenn unser Ensemble spielt.

PAURI In den Clubs bestimmen Kinder und Jugendliche den Raum mit. Da werden Texte gemeinsam geschrieben und Szenen entwickelt, Bewegungen ausprobiert und Musikstücke komponiert. Kinder und Jugendliche haben nach der UN-Kinderrechtskonvention das Recht auf kulturelle Teilhabe und künstlerische Betätigung. Deshalb ist es wichtig, dass wir auf unseren Bühnen Platz machen für junge Menschen und die Theaterstücke, die sie in den Spielclubs entwickeln. Sie sind nicht nur Rezipient*innen, sondern natürlich auch Künstler*innen, die ihre Positionen selbstbewusst auf der Bühne vertreten.

Wer Lernt Hier Was Von Wem?

Die Abteilung Künstlerische Vermittlung und Partizipation entwickelt gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Projekte. In Workshops und Werkstätten, bei Open-Stage- Abenden und auf der mobilen Bühne können alle aktiv mitmachen. Dabei legt das Team den Schwerpunkt auf eine diskriminierungssensible Vermittlungsarbeit. Die Autorin Luna Ali sprach mit der Teamleiterin Amrit Walia und dem Antirassismus- und Bildungsreferenten Angelo Camufingo über Diversität und Barrieren, neue Vorbilder und Fantasie.
Luna Ali im Gespräch mit Angelo Camufingo und Amrit Walia
Mit den Vermittlungsformaten schafft ihr Räume für die Begegnung von jungen Menschen und Theater. Amrit, kannst du skizzieren, was euch dabei grundsätzlich umtreibt?

AMRIT Ein Großteil unseres Spielplans richtet sich an Schulklassen und darin liegt eine große Chance, denn so erreichen wir sehr viele Berliner Kinder und Jugendliche direkt. Dennoch beobachten wir, dass aus manchen Stadtteilen und Schulformen Klassen seltener kommen. Das soll sich ändern. Wir wollen, dass sich alle Kinder und Jugendliche bei uns wiederfinden. Damit das gelingen kann, spielen viele Faktoren eine Rolle, z. B. welche Geschichten werden von wem auf der Bühne erzählt? Wie können wir Barrieren schneller und konsequenter abbauen? Mit welchen Vorbildern bringen wir junge Menschen zusammen und welche ästhetischen Setzungen machen wir? Wie fühlt sich ein Theaterbesuch in der Parkaue eigentlich an? All das ist relevant.

Warum ist das insbesondere für die Vermittlungsarbeit relevant?

AMRIT Geschichten, die Kinder und Jugendliche im Theater erleben, sind wirkmächtig und prägen sie in ihrem Selbstverständnis und im Umgang mit anderen. Stereotype Darstellungen, z. B. von Geschlechterrollen, Familien- und Klassenverhältnissen, Liebesbeziehungen oder der Umgang mit nicht-normativen Körpern, beeinflussen ihre Wahrnehmung von Welt ja bereits im Kleinkindalter. Das macht Kindertheater zu einer wichtigen und verantwortungsvollen Aufgabe. Uns interessiert, wie kulturelle und politische Bildung mit künstlerischen Mitteln so umgesetzt werden kann, dass sie Kinder gleichermaßen ermächtigt und sensibilisiert. Unser Programm soll daher diversitätsbewusst sein, neue Perspektiven eröffnen und Lust auf Theater machen.

Die Parkaue arbeitet nicht nur mit Künstler*innen, sondern auch mit Fachexpert*innen zusammen. Angelo, du hast im Februar die Filmvorführung „Der zweite Anschlag“ begleitet. Was hast du in diesem Rahmen gemacht und was leistet dieser Film?

ANGELO Amrit hatte mich eingeladen, gemeinsam mit der Regisseurin Mala Reinhardt die Nachgespräche mit Schulklassen und dem Abendpublikum zu führen. „Der zweite Anschlag“ dokumentiert rassistische Gewalt von den 1980er Jahren bis in die Jahre des NSU-Terrors hinein und stellt dabei – und das ist das Besondere des Films – die Perspektive der Opfer und Betroffenen in den Mittelpunkt.

AMRIT Genau dieser Perspektivwechsel war uns wichtig. Die Dokumentation zeigt auch die politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit, die migrantische Selbstorganisationen und Hinterbliebene seit Jahrzehnten leisten. Die Behörden haben in vielerlei Hinsicht völlig versagt, beziehungsweise sich mitschuldig gemacht.

ANGELO Dazu kommt, dass rassistische Gewalttaten in der Öffentlichkeit oft als isolierte Einzelfälle dargestellt werden. Den Anstrengungen der Aufarbeitung und Warnungen durch BIPoC vor Rechtsterrorismus und Rassismus werden medial kaum Aufmerksamkeit geschenkt, da setzt der Film an. Der Anschlag in Hanau ist da nur ein weiteres grausames Beispiel und hat vor allem vielen jungen BIPoC in diesem Land noch einmal vor Augen geführt, wie unsere Gesellschaft mir derartigen Taten umgeht. Außerhalb der Jahrestage wird über Anschläge wie Hanau gesamtgesellschaftlich nur wenig gesprochen. Es ist wichtig, durch Angebote wie die Filmvorführung mit Schulklassen, über rechte Gewalt immer wieder ins Gespräch zu kommen. Als Moderator kann ich dort mein Wissen aus der Antirassismus- und der Bildungsarbeit teilen, angerissene Gedanken fachlich vertiefen, für rassistische Einstellungen sensibilisieren, kurz: Perspektiven und Kontexte einbringen. Besonders wichtig ist in solchen Gesprächssituationen auch das Empowerment, also die Stärkung, Jugendlicher, die selbst von Rassismus und anderen Diskriminierungen betroffen sind.

Empowerment von jungen Menschen wird auch ein Thema beim Lehrer*innen-Fachtag sein, der fürs Frühjahr geplant ist. Worum wird es da genau gehen?

AMRIT In Gesprächen mit Lehrer*innen und Referendar*innen erlebe ich immer wieder, dass uns ähnliche Fragen umtreiben: Wie können wir diskriminierungssensibler agieren – im System Theater und im System Schule? Welches Wissen, welche Skills und Unterstützung braucht es? Beim ersten Fachtag geht es um Antirassismus. Expert*innen wie Angelo teilen ihr Wissen und geben praktische Tools an die Hand.

ANGELO Für die Arbeit mit jungen Menschen, egal ob im Unterricht oder im Theater, ist es wichtig, immer wieder zu überprüfen: Wer wird mitgedacht und wer nicht, was ist meine individuelle Perspektive und Positionierung, wie kann ich unterschiedliche Perspektiven in meine Arbeit einfließen lassen? Diskriminierungssensibles Arbeiten ist ein kontinuierlicher Lernprozess.

AMRIT Theater als außerschulischer Bildungsort bietet sich dafür gut an. Wir verstehen den Fachtag auch als Vernetzungsangebot: Wie können Schule und Theater diese Themen gemeinsam angehen?

Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig es ist, Geschichten aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Eines der Projekte, die einen diversitätsorientierten Ansatz verfolgen, ist die Lesereihe in Kooperation mit Audream.

AMRIT Audream ist eine mobile antirassistische Bibliothek, die junge Schwarze Menschen in Berlin aufgebaut haben. Mit empowernden Büchern touren sie zu Stadtbibliotheken, Veranstaltungen und Schulen – und kommen nun auch zu uns. Mit der Lesereihe verfolgen wir einen Peer-to-Peer- Ansatz: Junge Menschen lesen für junge Menschen. Besonders für BIPoC und anders marginalisierte Kinder und Jugendliche ist es wichtig zu erleben, dass es Menschen gibt, die ähnliche Geschichten teilen wie sie.

Welche Möglichkeiten kann Theater Kindern und Jugendlichen noch bieten?

ANGELO Theater ist ein Spielraum, in dem sich Kinder und Jugendliche mit ihrer Lebenswirklichkeit auseinandersetzen können, sie befragen und buchstäblich in Bewegung bringen können. Im Theater können andere Welten und Handlungsweisen mit künstlerischen Mitteln entworfen und erprobt werden. Darin liegt eine große Kraft. Gerade für marginalisierte Kinder und Jugendliche, die in ihrem Alltag immer wieder Stereotypisierungen erleben, die auf der Straße bestimmte Blicke ernten oder anderen Mikroaggressionen ausgesetzt sind, ist es wichtig, Räume zu haben, die sich anders anfühlen. Räume, in denen sie sich verstanden und sicher genug fühlen, um sich kreativ auszuprobieren. Denn BIPoC Kinder wachsen teilweise als die größten Schauspieler*innen auf, indem sie konsequent in der absoluten Dualität ihrer eigenen Identität und der Dominanzgesellschaft leben. Was die Gesellschaft trennt, kann im Theater zusammengebracht werden.

AMRIT Wir wollen ein Ort sein, an dem junge Menschen sich ausprobieren können und erstmal herausfinden, worauf sie Lust haben: Musik machen oder als Spieler*in auf der Bühne stehen, Texte schreiben, Kostüme oder ein Bühnenbild entwerfen. Bei uns können sich Kinder und Jugendliche über gesellschaftspolitische Themen austauschen und im kreativen Schaffen Gesellschaft neu erfinden. Denn globale politische Bewegungen wie Black Lives Matter und Fridays for Future, alle von jungen Menschen initiiert, machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche weltweit für radikalere Zukunftsvisionen kämpfen als die Erwachsenen. Und natürlich fragen wir uns, welche strukturellen Veränderungen müssen wir machen?

ANGELO Hier spielt auch das Bild von Theater mit hinein, das in Schulen und der Öffentlichkeit vermittelt wird. Gerade im deutschen Kontext – im „Land der Dichter und Denker“ – ist die Idee von Literatur und Kunst ziemlich abgehoben. Da stellt sich dann die Frage für junge Menschen: „Gehöre ich da hin oder gehöre ich da nicht hin?“ Und das ist eben nicht nur eine Frage von „Ist das interessant oder langweilig?“, sondern „Hat das was mit mir und meinem Leben zu tun, wird hier meine Realität verhandelt?“

Zum Abschluss möchte ich mit euch noch über die partizipative Produktion „Macht PAUSE“ sprechen. Das Projekt fragt danach, wie Jugendliche mit den Erwartungen umgehen, die für viele unweigerlich mit dem Schulabschluss und der Frage „Wie weiter?“ im Raum stehen.

AMRIT Genau, in dieser Zeit erleben junge Menschen oft einen großen gesellschaftlichen Druck. Direkt nach dem Abschluss sitzt ihnen das JobCenter und die Krankenversicherung im Nacken, zwingt sie in Jobs und Ausbildungen. Ein Gap Year können sich nicht alle leisten. Und wir fragen: Wo ist hier die Pause? Wo ist der Freiraum, sich auszuprobieren: Was liegt mir, wo will ich hin im Leben, welcher Beruf könnte mir Freude machen?

Für das Projekt arbeitet ihr partizipativ mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen.

AMRIT Ja, wir bringen die Teilnehmenden mit der Choreografin und Bildenden Künstlerin Magda Korsinsky und ihrem künstlerischen Team zusammen. Von November bis April treffen sie sich wöchentlich, tauschen und probieren sich aus. Am Ende steht ein selbst entwickeltes Stück, das sie Schulklassen präsentieren. Hier trifft junges Publikum auf junges Ensemble.

ANGELO Wenn es im Theater eine Sensibilität gibt für die unterschiedlichen Erfahrungen, die junge Menschen machen, und Diversitätssensibilität und Diskriminierungskritik als Aufgaben des Theaters verstanden werden, dann kann ein Raum entstehen, der junge Menschen dazu befähigt, sich auszuprobieren, spielerisch zu sein, ehrlich zu sein und die Gesellschaft zu hinterfragen. Das Theater kann ein Braver Space, ein mutiger Raum, sein, und das für alle Beteiligten.